Marianne von Werefkin - Russlands Antwort auf Rembrandt

Ascona

Die russische Malerin Marianne von Werefkin (1860-1938) war eine grosse Figur des Expressionismus. In ihrer Heimat wurde sie als „russischer Rembrandt“ bezeichnet. Ihren Lebensabend verbrachte sie in Ascona, wo heute ihr malerischer und literarischer Nachlass aufbewahrt wird.

Die aus einer alten Adelsfamilie stammende Marianna Wladimirowna Werefkina kam am 29. August 1860 im russischen Tula zur Welt. Sie erhielt eine anspruchsvolle, an westlichen Maßstäben orientierte Erziehung und Ausbildung. Ihr künstlerisches Talent wurde schon früh erkannt und gefördert. Ab 1874 bekam sie professionellen Zeichenunterricht, und 1880 wurde Ilja Repin, der bedeutendste Maler des russischen Realismus, ihr Privatlehrer.

1888 durchschoss sie bei einem Jagdunfall versehentlich ihre rechte Hand, die Malerhand, die nach langwieriger Heilung verkrüppelt blieb. Doch von einem fehlenden Mittelfinger liess sie sich nicht vom Malen abhalten. Bald erreichte sie in der realistischen Malerei eine Perfektion, die ihr den Beinamen "russischer Rembrandt" einbrachte.

Negativ auf ihre künstlerische Tätigkeit wirkte sich die 27 Jahre währende Beziehung zu dem vier Jahre jüngeren, mittellosen Offizier Alexej von Jawlensky aus, der eine grosse Faszination auf sie ausübte. Den ebenfalls malenden Jawlensky lernte sie 1892 kennen. „Die Liebe ist eine gefährliche Sache, besonders in den Händen Jawlenskys“, urteilte Werefkin.

Sie stellte sich für ihn zurück
Auf eine Heirat verzichtet sie, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine großzügigen Rente des Zaren als verheiratete Frau verloren hätte. Sie förderte Jawlensky mit all ihren Kräften, um ihm zu ermöglichen, was „einem schwachen Weibe“ zu ihrer Zeit verwehrt ist. »Drei Jahre vergingen in unermüdlicher Pflege seines Verstandes und seines Herzens. Alles, alles, was er von mir erhielt, gab ich vor zu nehmen – alles, was ich in ihn hineinlegte, gab ich vor, als Geschenk zu empfangen … damit er nicht als Künstler eifersüchtig sein sollte, verbarg ich vor ihm meine Kunst.«

Ihr Geliebter dankte es ihr, indem er sich an der neunjährigen Helene Nesnakomoff verging, der Gehilfin von Werefkins Zofe. Mit der Zofe hatte er bereits ein Verhältnis und sie bekam einen Sohn (zwanzig Jahre später sollte Jawlensky die Mutter seines Sohnes heiraten, um sich gänzlich von der inzwischen verarmten Werefkin zu distanzieren).

Werefkin führte derweil Tagebuch und erfand in den »Lettres à un Inconnu« einen imaginären Gesprächspartner, um den Mangel in ihrem Leben auszugleichen. 1896 zog sie nach München, wo sie einen Salon unterhielt, der bald weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmt werden sollte. Hier traf sich die Kunstwelt und diskutierte über die neusten Entwicklungen. Werefkin wurde zur charismatischen Theoretikerin und Impulsgeberin.

Die Enttäuschung mit Kandinsky
1906 endete ihre zehnjährige Jawlensky-Krise: Werefkin griff wieder selbst zum Pinsel. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges schaffte sie bahnbrechende, wie in die Zukunft weisende Werke. Sie beeinflusste Wassily Kandinsky, der mit ihren Ideen als wichtiger Theoretiker in die Kunstgeschichte eingehen sollte, zum Beispiel mit der Schrift „Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei“ aus den Jahren 1911/12. Die Ideengeberin Werefkin wurde nicht erwähnt.

Zusammen mit weiteren Künstlerkollegen gründete Werefkin in ihrem „rosafarbenen Salon“ die Neue Künstlervereinigung München - ohne Kandinsky. Nach einer unschönen Intrige, initiiert von Kandinsky, Marc und Macke, spaltete sich der »Blaue Reiter« ab. Werefkin wurde zu »der blauen Reiterreiterin«, wie ihre Freundin Else Lasker-Schüler sie nannte.

Bei Ausbruch des ersten Weltkriegs mussten Werefkin und Jawlensky Deutschland innerhalb von 24 Stunden verlassen; sie flohen in die Schweiz, wo Werefkin sich der Dada-Bewegung anschloss. Durch die russische Oktoberrevolution verlor sie ihre zaristische Pension. 1921 – sie lebte nun schon seit drei Jahren in Ascona - brach sie endgültig mit Jawlensky. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Vertreterin für Pharmaprodukte und mit grafischen Arbeiten.

Verarmt, aber kreativ
Verarmt, jedoch ungebrochen schöpferisch, verbrachte sie das letzte Viertel ihres Lebens am Lago Maggiore, getragen von Freundschaft und Bewunderung für ihre Werke. „Ascona hat mich gelehrt, nichts Menschliches zu verachten, das grosse Glück des Schaffens und die Armseligkeit der Existenzmöglichkeit gleich gut zu leben und sie als Schutz der Seele in mir zu tragen“, schrieb sie im September 1931.

Als Werefkin am 6. Februar 1938 starb, wurde sie unter Anteilnahme fast der gesamten Bevölkerung nach russisch-orthodoxem Ritus auf dem Friedhof von Ascona beerdigt.

Ein Grossteil ihres malerischen und literarischen Nachlasses wird in der Fondazione Marianne Werefkin in Ascona aufbewahrt. Durch Schenkungen ist diese Stiftung heute auf rund hundert Gemälde angewachsen. Darüber hinaus besitzt sie 170 Skizzenbücher und Hunderte von Zeichnungen. Ein Teil davon wird in der ständigen Sammlung des Museo comunale d’arte moderna in Ascona präsentiert.

Buchtipps

Brigitte Rossbeck: Marianne von Werefkin. Die Russin aus dem Kreis des Blauen Reiters, Siedler Verlag, München 2010.

Bernd Fäthke: Marianne Werefkin, Hirmer-Verlag, München 2001